
Fahrradweg in Aachen © Frank Rumpenhorst | ADFC
Wandel im Verkehr: Clevere Kampagnen für sichere Straßen und mehr Rücksichtnahme
In Aachen, Leipzig und Freiburg demonstrieren Bürger:innen, Verwaltungen und Unternehmen, wie durch Dialog und innovative Kampagnen eine neue Verkehrskultur entstehen kann.
Derya Kaya war es leid. Mehrmals täglich musste sie die lautstarken Auseinandersetzungen zwischen Paketzustellern und Radfahrenden vor ihrem Kiosk in Aachen ertragen. Der Zankapfel war stets derselbe: ein Paketwagen, der de Radweg blockierte, um Pakete zum Kiosk zu bringen und abzuholen. Entschlossen, die Streitereien zu beenden, griff die Kioskbesitzerin zum Telefon und rief die Verwaltung an. Zweimal. Dann wurde eine Lieferzone vor ihrem Kiosk markiert. Seitdem herrscht Ruhe, berichtet Derya Kaya beim Jahresdialog Radverkehr.
Sie war eine von zehn Aachener Bürger:innen, die im vergangenen Jahr mit der Stadtverwaltung über ein besseres Miteinander im Straßenverkehr diskutierten. Claudia Nowak hatte sie alle eingeladen. Seit sieben Jahren arbeitet die Verkehrsplanerin daran, das Verkehrsklima und die Sicherheit in Aachens Straßen zu verbessern. Neue Studien der Unfallforschung zeigen, dass dies dringend notwendig ist. Die Aggression im Straßenverkehr nimmt zu. Unternehmen, Verbände und Verwaltungen versuchen mit Kampagnen dieser gefährlichen Entwicklung entgegenzuwirken und den Wandel im Verkehr voranzutreiben. Vorreiter sind Freiburg, Leipzig und auch Aachen.
„Mit zwei Anrufen bei der Stadt lassen sich Probleme im Straßenverkehr selten lösen“, weiß Claudia Nowak. Die Grundlage für ein gutes Miteinander auf den Straßen sind eine sichere und selbsterklärende Infrastruktur, ein respektvoller Umgang sowie das Kennen und Einhalten der Verkehrsregeln. Mit ihren Kolleg:innen aus verschiedenen Abteilungen arbeitet die Verkehrsplanerin daran, dafür die Rahmenbedingungen in Aachen zu verbessern – mit dem “Aktionsplan Verkehrssicherheit der Stadt Aachen“.
Ein wichtiger Baustein ist die Kampagne „AChtsam unterwegs“, die auf Aufklärung und Austausch setzt. Illustrationen in Postergröße und Posts auf Social Media erklären die Verkehrsregeln. Sie erinnern Autofahrende vor dem Öffnen der Fahrzeugtür an den Schulterblick und appellieren an Scooterfahrer:innen, ihr Fahrzeug am Gehwegrand zu parken.
Wie umgehen mit Regelbrechern?
Die Motive werden ständig aktualisiert und ergänzt. Ein Beispiel ist ein Baustellenplakat, das Radfahrende zum Absteigen auffordert, wenn ihre Wege baustellenbedingt gesperrt sind. Weil manche Radfahrende aber trotzdem über Gehwege fahren statt zu schieben, landen immer wieder Beschwerden von Fußgänger:innen auf Claudia Nowaks Schreibtisch. Sie schreiben ihr, weil sie sich erschreckt haben oder bedrängt fühlen, wenn sie rücklings überholt werden. „Es ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, dass Menschen zunehmend Eigeninteressen über die Verkehrsregeln stellen“, sagt Claudia Nowak. Verkehrsplanerisch sei das kaum lösbar. „Wir können nur aufklären und appellieren, dass sich die Menschen an die Regeln halten“, betont sie. Bei Verstößen immer die Polizei zu rufen, sei keine Lösung.
Was sie tun kann ist, mit ihren Kolleg:innen sichere und selbsterklärende Verkehrsinfrastrukturen für alle zu schaffen und Multiplikatoren zu finden, die dem Thema Verkehrssicherheit und Rücksichtnahme in der Öffentlichkeit mehr Gehör verschaffen. Dafür ist sie bei Thementagen oder Bürgerfesten unterwegs oder diskutiert mit Vertreter:innen aus der Zivilgesellschaft über unterschiedliche Mobilitätsbedürfnisse.
Rückenwind von der Stadtspitze
Unterstützung bekommt sie von der Stadtbaurätin. Diese steuerte im Rahmen des Programms „Perspektivwechsel“ erst in Begleitung eines Fahrlehrers einen 40-Tonnen-Lkw durch Aachen, um anschließend mit ihm durch die Straßen zu radeln. Claudia Nowak hilft das Werben für mehr gegenseitiges Verständnis durch prominente Menschen der Stadtgesellschaft. „Weil es eine starke öffentliche Wirkung hat“, wie sie sagt.
Dass sich das Miteinander in Aachen langsam verbessert, spürt Ben Jansen vom ADFC Aachen. „Jedenfalls dort, wo geschützte Radwege und Fahrradstraßen entstanden sind“, sagt er und nennt als Beispiel die Lothringerstraße. Früher mussten sich der Rad- und Fußverkehr dort den Gehweg teilen. Seit sie Fahrradstraße wurde, gehört die Fahrbahn den Radfahrenden und die Fußgänger haben den Gehweg für sich. Aufgeheizt und gefährlich findet er das Klima an den Stellen in der Stadt, wo Autofahrende Radwege verbotenerweise nutzen oder zuparken, dort wünscht er sich deutlich mehr Polizeikontrollen.
Der Ton im Verkehr wird rauer
„Auch in Leipzig wird der Ton im Verkehr rauer“, bemerkt Michael Jana, Leiter des Mobilitäts- und Tiefbauamts der Stadt. Mit der Verkehrssicherheitskampagne „Leipzig passt auf!“ wollen Stadtverwaltung, Polizeidirektion, Verkehrsbetriebe, Verkehrswacht und Ordnungsamt gegensteuern. Ihr Ziel: das Miteinander im Verkehr verbessern und dadurch langfristig die Unfallzahlen senken. „Wenn die Menschen mehr Rücksicht nehmen, sinken die Unfallzahlen“, sagt Jana.
Die Kampagne startete 2022 und warb stadtweit mit Plakaten auf Werbetafeln, Bussen und Bahnen für mehr Rücksichtnahme. Seitdem wechseln regelmäßig die Schwerpunkte und mit ihnen der Aufwand für die Kampagnen-Partner. Manchmal liegt der Fokus auf Information und Unterhaltung. Ein anderes Mal erklären Plakate die Verkehrsregeln und werden im Social-Media-Quiz abgefragt. Beim Thema Schulwegsicherheit war die Polizei vor Ort und kontrollierte rund um die Schulen. Die Grundschüler:innen wurden per Malaktion an der Kampagne beteiligt und erhielten außerdem Karten mit Parkverbotshinweisen zum Verteilen.
Die Vorbereitung der Kampagne dauerte zwei Jahre – ein langer Prozess, der sich aber gelohnt hat. Die intensiven Diskussionen über Themen, Layout und Kommunikation haben die Abläufe beschleunigt. „Die Rahmenbedingungen stehen, jetzt setzen wir sie um“, betont Jana. Das übernimmt eine Agentur, die den gesamten Prozess begleitet hat.
Die Stadt trägt die Kosten der Kampagne. Polizei, Verkehrswacht und Verkehrsbetriebe stellen Werbeflächen, beklebte Fahrzeuge und ihre Social-Media-Kanäle für Posts oder Spots im Fahrgast-TV bereit.
„Wie stark die Aktionen wirken, lässt sich schwer messen“, gibt Jana zu. Inzwischen hat die Verwaltung die Kampagne in ihre jährliche Bürgerumfrage aufgenommen. So will sie in den nächsten Jahren herausfinden, ob und wie „Leipzig passt auf!“, bei den Menschen ankommt.
Der Wandel im Verkehr macht Spaß
Mit einem Radverkehrsanteil von 33 Prozent liegt Freiburg bundesweit bereits ziemlich weit vorn. Aber die Stadt will ihre CO₂-Emissionen bis 2030 nochmal deutlich reduzieren. Damit das klappt, müssen deutlich mehr Menschen auf klimafreundliche Verkehrsangebote umsteigen. Um diesen Prozess kommunikativ zu begleiten, startete die Stadt die Kampagne „Jetzt oder Now. Freiburg steigt um: Für dich, für die Stadt, fürs Klima“. Die Entscheider:innen wollten zeigen, warum der Umstieg notwendig ist und vor allem: dass er Spaß macht.
Ein voller Erfolg war aus Sicht der Stadt der Fotowettbewerb zum Auftakt der Kampagne. Über 100 Freiburger:innen haben unter dem Motto „Mein Freiburg, meine Mobilität“ gezeigt, wie sie am liebsten in ihrer Stadt unterwegs sind. Aus den Einsendungen wurden 15 Gewinnerbilder ausgewählt, im Museum für Neue Kunst ausgestellt und später als Kalender und Postkarten veröffentlicht.
Unternehmen gestalten Verkehrswende
Mit dem Aufstellen neuer Stadtmöbel auf Zeit in einem Stadtteil, zeigte die Verwaltung, wie Anwohner:innen von der Umgestaltung des öffentlichen Raums profitieren. Ein Verkehrswende-Memory „Freiburgs früher und heute“ verdeutlichte, dass der Wandel im Verkehr ein kontinuierlicher Prozess ist. Ein besonderes Highlight war der Podcast. In acht Folgen informierte er die Hörer:innen über die bereits bestehenden nachhaltigen Mobilitätsangebote in Freiburg und zeigte, wie Unternehmen aktiv zur Verkehrswende beitragen.
Ein herausragendes Beispiel ist der Dienstradleasing-Anbieter JobRad, der im März 2023 gemeinsam mit dem SC Freiburg die Charity-Aktion „Fahrrad-Fan-Zahl“ ins Leben rief. Für jeden Fan, der mit dem Fahrrad zu einem Heimspiel kommt, spendet JobRad einen Euro an eine gemeinnützige Organisation. Seit Beginn der Zählung ist der Anteil der radfahrenden Fans laut dem SC Freiburg um rund 15 Prozent gestiegen. „Die Verkehrswende ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe“, betont ein Sprecher der Stadt. Aktionen wie die „Fahrrad-Fan-Zahl“ tragen dazu bei, dass das Thema in der Bevölkerung präsent bleibt und aktiv gelebt wird.
Andrea Reidl

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